Am 20. Februar 2013 feierte meine neue Komödie “Aber nur im Kontingent” Premiere in der Synagoge an der Roonstraße in Köln. Tapfer im Nirgendwo präsentiert einen kleinen Auszug aus dem Text.
“Aber nur im Kontingent” von Gerd Buurmann
Ein Stück Wiedergutmachung für mindestens fünf Kontingentflüchtlinge
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Der erste Deutsche, den ich jemals gesehen habe, war eine Frau.
Eine große Frau.
Eine große deutsche Frau.
Eine große deutsche Frau in Uniform
und Hose!
Stimmt.
Das fand ich am Faszinierendsten. Ich hatte vorher noch nie eine Frau in Hosen gesehen. Bei uns trugen Frauen immer Röcke.
Sie kam auf uns zu und sprach.
Sie war nicht stumm.
Sie sprach: “Ihre Fahrkarten, bitte!”
“Ihre Fahrkarten bitte!”
“Ihre Fahrkarten bitte!”
“Ihre Fahrkarten bitte!”
“Ihre Fahrkarten bitte!”
Das war vermutlich der erste Satz, den ich jemals von einer Deutschen gehört habe.
Wir waren im Zug,
Unsere Eltern und wir.
Im Zug nach Deutschland.
Wir waren noch Kinder.
Wir hatten schon viel von deutschen Zügen gehört.
Deutsche Züge sind immer pünktlich.
Deutsche Züge bringen einen, wohin man will.
In deutschen Zügen gibt es Speisewagen.
Und Gepäckwagen, die das Geld wieder ausspucken, wenn man den Wagen zurückbringt.
In Deutschland gibt es das Geld zurück.
Aber es gibt zwei Klassen.
Stimmt, zwei Klassen. Das war auch neu.
Wir waren in Deutschland.
Beim Klassenfeind.
Zu Hause.
Wir sind Flüchtlinge.
Waren!
Bitte?
Wir waren Flüchtlinge. Sowas bleibt man nicht. Jedenfalls nicht freiwillig.
Wir sind jetzt Deutsche.
Wir waren Kontingentflüchtlinge.
Sind!
Sind?
Wir sind Kontingentflüchtlinge.
Immer noch?
Klar.
Bleibt man das etwa?
Verliert man es?
Kontingentflüchtling heißen in Deutschland Flüchtlinge, die in festgelegten Anzahlen
(Kontingente)
gleichmäßig auf die einzelnen Bundesländer verteilt werden. Dies betrifft Flüchtlinge, die im Rahmen einer humanitären Hilfsaktion, aufgrund von Sichtvermerken
(Visa)
oder einer Übernahmeerklärung des Bundesministeriums des Innern aufgenommen wurden.
Aufgenommen!
Wir wurden aufgenommen!
Aufgenommen!
Auserwählt!
Ja, wir sind auserwählt.
Auserwählt Deutsche zu werden.
Deutsche zu sein!
Hurra!
Aber nur im Kontingent.
Natürlich.
Muss ja alles seine Ordnung haben.
§ 23 des Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge. Absatz Eins:
Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
Politische Interessen?
Bestimmte Ausländergruppen?
Еврей!
Was?
Wie sind Еврейство!
Na, wenn das kein Grund ist.
Grund?
Politisches Interesse! Deutschland braucht mehr Еврейство.
Aber nicht zu viele.
Nicht zu viele!
Nur ein Kontingent.
Klar, ein Kontingent.
Etwas mehr.
Etwas weniger.
Um das Loch zu stopfen.
Das Loch.
Das Loch in der Geschichte.
Da wo andere Völker ein warmes Gefühl haben, da haben wir Deutsche unser Loch in der Geschichte.
Wir Deutsche.
Wir sind Kontingentflüchtlinge.
Vor über zwanzig Jahren erkannte Deutschland, dass es zu wenig Juden hatte.
Warum?
Egal.
Wo waren die Juden hin?
Das würde jetzt nur Verwirrung stiften.
Jedenfalls durften Juden aus der ehemaligen Sowjetunion jetzt nach Deutschland einreisen und Deutsche werden.
Einfach so?
Einfach so!
Warum?
Weil wir Juden sind.
Ach so.
Sag nicht Juden.
Was?
Sag jüdische Bürger!
Weil wird jüdische Bürger sind.
Sag nicht jüdische Bürger. Sag jüdischen Mitbürger!
Weil wir jüdischen Mitbürger sind.
Nein. Mitbürger jüdischen Glaubens!
Weil wir Mitbürger jüdischen Glaubens sind.
Ich hab’s. Sag: Mitbürger mit jüdischem Migrationshintergrund.
Weil wir Mitbürger mit jüdischem Migrationshintergrund sind.
Sehr gut.
Danke.
Wir waren gefragt.
Wir waren erwünscht.
Wir wurden geholt.
Viele mit dem Zug!
Irgendwo in Deutschland organisierten ein paar Bürokraten den Rückzug der Juden.
Sag nicht Juden.
Mitmigranten mit bürgerlichem Judenhintergrund.
Per Zug.
Die Gnade der späten Geburt.
Wir kamen erst mal in ein Lager.
Quatsch.
Doch klar.
Ach komm schon, das war doch kein Lager.
Natürlich war es kein Lager Lager, aber es war ein Lager.
Ein super Lager.
Die haben uns sogar Weihnachtsbäume geliefert.
Stimmt. Im Lager gab es Weihnachten!
Und ein REWE.
Genau, in unserem Lager gab es ein REWE!
Es war übrigens damals der REWE mit dem größten Umsatz pro Quadratmeter in ganz Deutschland.
Der REWE war nämlich der einzige Laden im Lager.
Der einzige Laden im Lager.
Klingt wie ein Lied.
Notier das mal.
Der einzige Laden in Lager.
Sehr klein.
Alle Flüchtlinge kauften da ein.
Mit den 400 Mark.
Ja, erinnere mich, die 400 Mark!
In Deutschland bekamen wir 400 Mark, jeden Monat, einfach so. Fürs nichts tun.
Fürs da sein.
Fürs pure da sein.
400 Mark für den einzigen Laden im Lager.
Und wir mussten nichts dafür tun.
Nur Fegen.
Einmal die Woche.
Freitags.
Freitags mussten sich alle Männer des Lagers auf dem Hauptplatz versammeln und fegen.
Ich wollte da auch immer mitmachen. Ich fand das nämlich immer so toll. Das Gemeinschaftsgefühl. Im Lager.
Es gab 400 Mark!
Das war so viel Geld, wie mein Vater in einem Jahr in der Ukraine verdiente!
Meine Mutter hat uns davon sofort Yoghurts gekauft.
Für jeden einen!
Stimmt, in der Ukraine hatten wir immer nur einen Yoghurt und den mussten wir uns teilen. Jetzt hatten wir alle einen Yoghurt. Einen Yoghurt für uns allein. Das war Deutschland!
Einmal hat mein Cousin sogar 500 Mark auf der Straße gefunden. Es war Osterm. Wir spielten verstecken. Verstecken im Lager. Auf einmal kam mein Cousin mit 500 Mark aus dem Versteck gerannt und rief: Смотри, что я нашел! Er hatte 500 Mark gefunden. Einfach so. Auf der Straße. Wir haben uns natürlich gleich gefragt, warum in Deutschland 500 Mark auf der Straße lagen. Vielleicht war es ja ein Brauch in Deutschland, zu Ostern Geld auf die Straßen zu werfen. Oder das Geld war vergiftet.
Wir waren schließlich in Deutschland.
Oder es war ein Test. Die Deutschen wollten wissen, ob wir Juden das Geld zurückgeben.
Wir haben also gleich einen Zettel geschrieben und ihn an den einigen Laden im Lager geheftet:
500 Mark gefunden! Wem es gehört, soll zu uns in die Wohnung kommen.
Wohnung?
Was?
Zimmer!
Gut. Zimmer.
Im Lager gab es keine Wohnungen.
Hey, Hey, Hey!
Was?
Jetzt sag nicht dauernd Lager.
Warum nicht.
Das stimmt doch nicht.
Doch!
Nein, so war doch nicht.
Wie denn sonst?
Du willst mir sagen, in Deutschland wurden Juden in ein Lager …
Sag nicht Juden.
Da wurden Mitjüdische Hintergrundsbürger in ein Lager gebracht und dann konnte dort ein deutscher Bürgermeister anrufen und Juden bestellen.
Sag nicht Juden.
Halt die Fresse.
Opfer!
Also in Deutschland konnte man Juden bestellen.
Vermutlich.
Wie muss ich mir das vorstellen?
Keine Ahnung.
Ich schlage vor, wir spielen das einfach mal nach.
Was?
Ja! Du spielst einfach einen Bürgermeister von irgendeiner deutscher Stadt.
Ich?
Ja! Und ich bin Esther die Lagerleiterin.
Lagerleiterin?
Was weiß ich, wie die Leute da hießen. Also, ich bin die Lagerleiterin. Esther, die Lagerleiterin. Wollte ich immer schon mal sein. Also Du rufst mich jetzt an.
…
Wählscheibe? Ist das Dein Ernst?
Ja, Tschuldigung. Das Wort Lager hat mich so melancholisch gemacht.
…
Ring Ring.
Unna Massen Lager, wie kann ich helfen?
Unna Massenlager?
Nein nicht Massenlager. Unna Massen Lager.
Unna Massenlager?
Ja, in Unna gibt es einen Stadtteil der heißt Massen und da war das Lager. Unna Massen Lager. Wie kann ich helfen?
Ja, hier spricht der Bürgermeister von Wanne Eickel.
Wie kann ich Ihnen helfen Herr Bürgermeister.
Ja, ähm, das ist mir jetzt ein bißchen unangenehm.
Ihnen muss nichts unangenehm sein.
Danke.
Bitte. Also, wie kann ich helfen?
Ja, ähm, wir … Wir haben zu wenige junnnnnn.
Wie Bitte?
Wir haben zu wenige junnnn.
Ich kann Sie nicht verstehen.
Judn.
Bitte?
JUDEN! Wir haben zu wenige JUDEN!
Ach so, Juden.
Ja.
Das tut mir leid.
Mir auch.
Blöd.
Sie sagen es.
Wie konnte das denn geschehen?
Ich will jetzt nicht darüber sprechen.
Und wie kann ich ihnen helfen?
Ich wollte fragen, ob sie vielleicht ein Dutzend hätten?
Ein Dutzend?
Ja?
Ich schau mal nach.
Danke.
…
Sie haben Glück.
Ja?
Ja! Wir haben noch ein Dutzend.
Das ist ja wunderbar!
Wann kommen Sie sie abholen?
Abholen?
Ja.
Ich muss sie auch noch abholen?
Wie denn sonst?
Können Sie sie nicht schicken?
Schicken?
Ja, mit dem Zug! Ich zahle auch.
Das geht natürlich auch.
Wunderbar. Dann haben wir ja alles.
Ja, dann haben wir alles.
Also gut. Auf Wiederhören.
Ja. Auf Wiederhören.
Und, äh, Schalom!
Shalom.
…
Wolfgang, die Juden kommen!
…
So war das ist Deutschland?
Wie denn sonst?
Da rief ein Bürgermeister im Lager an und bestellte Juden?
Vermutlich.
Woher wusste eine Stadt, wie viele Juden sie brauchten? Gab es da eine Formel? Eine Judenformel.
Vermutlich haben sie einen Prozentsatz errechnet.
Oder geschaut wie viele Juden sich eine Stadt leisten konnte, wegen Sozialhilfe und so.
Und eine Stadt, die besonders viel auf sich hielt, hat sie viele oder wenige Juden bestellt.
Natürlich viel!
Vielleicht hat eine Stadt aber auch gegengerechnet.
Gegengerechnet?
Ja, man hat geschaut wie viele Nazis in der Stadt sind und dann hat man …
Nein! Nein! Nein! So war es bestimmt nicht.
Also bei uns war das so: Meine Eltern wollten unbedingt nach Gelsenkirchen.
Gelsenkirchen?
Ja, das war bei vieler Familie ein Synonym für den Garten Eden. Gelsenkirchen! Aber nach Gelsenkirchen konnten sie uns nicht lassen. Gelsenkirchen war schon voll.
Voll?
Ja. Voll. Kontingent erschöpft.
Mit anderen Worten: Judenvoll.
Kann man so sagen.
Woran hat man erkannt, dass eine Stadt judenvoll ist?
Keine Ahnung.
Bekam die Stadt dann ein Schild? “Diese Stadt ist judenvoll!”
Vermutlich. “Gelsenkirchen. Judenvoll seit 1993!”
Und die Städte, die nicht schnell genug judenvoll wurden, bekamen vermutlich die Gelder gekürzt.
(Fotos von Antonio Ruiz Tamayo)